Von Wirklichkeiten und vom Ärgerniss deren sturer Nichtexistenz

 

 

 

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lle Menschen leben in einer eigenen Wirklichkeit. Manche meinen, dass all diese Wirklichkeiten eigentlich nur einer einzigen, absoluten Wirklichkeit entspringen würden, und das ist okay. Andere meinen, dass jeder seine eigene Wirklichkeit selbst erschaffe, und auch das ist okay. Ich für meinen Teil kann mit beiden leben.
Die Menschen sind verschieden stark überzeugt von ihrer Wirklichkeit, was dazu führt, dass die Wirklichkeit verschieden stark überzeugt von den Menschen ist. Nehmen wir beispielsweise Ot, einen alten Freund von mir. Ot ist, auch wenn er sich das selber gar nicht gerne hört, anders als andere Menschen. Er gehört zweifellos zu der Gruppe, die nicht sehr überzeugte Anhänger der Wirklichkeit ist, vielleicht müsste man sogar sagen, er hält schon vom Konzept einer Wirklichkeit rein gar nichts. Ich dagegen bin ein Mensch, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden derselben steht, und mir ist klar, dass es so etwas wie selbsterfüllende Prophezeiungen gibt, genauso wie ich weiss, dass man geradezu jeden Schwachsinn beweisen kann, wenn man nur angestrengt genug nach einem Beweis sucht.

Man kann sich vorstellen, dass mir Ot mit seinen ungewöhnlichen Ansichten da schon von Zeit zu Zeit gehörig auf die Nerven fallen kann!

Glücklicherweise begegnet man auf der Straße nicht allzu häufig Leuten wie Ot, was möglicherweise daran liegen kann, dass Ot gar nicht existiert, sondern ein Phantasiefigur ist. Das mag ein schonender Effekt für meine Nerven sein, aber ich kann Ihnen versichern, es hat auch seine schlechten Seiten!

Neulich, um Ihnen einen Eindruck dieser Situation zu verschaffen, unterhielten wir uns über gerade angesprochenen Effekt der Wirklichkeit. Ich spielte während des Gespräches gedankenverloren mit einem kleinen, geborstenen Kiesel. Ot, in seinem mangelnden Vertrauen in die Wirklichkeit, nahm mir den Kiesel aus der Hand, warf mir einen strengen weisst-Du-eigentlich-was-Du-da-hast-Blick zu, und stellte in den Raum: "Dieser Stein sendet Strahlen aus, die Glück bringen. Wer ihn trägt, dem wird mehr gelingen, als er je für möglich gehalten hätte".

Es mag nun niemanden wundern, dass ich für solche Ansichten nur ein müdes Lächeln über hatte; andererseits natürlich wollte ich auch nicht unfair sein (immerhin, hätte er vor 60 Jahren ein Stück Uran hochgehalten und mir dann dessen radioaktive Strahlung nachgewiesen, so hätte ich mit einer verfrühten Verurteilung ein ziemlich belämmertes Gesicht gemacht!). Ich bot also an, den Glücksstein auf die vorhergesagte Wirkung hin zu testen.

Um ein wirklichkeitsnahes Bild zu erhalten, entschieden wir, das wir beiden den Stein nacheinander ausprobieren sollten. Wie dessen Wirkung in mein Teil des Versuches ausfiel, brauche ich wohl nicht zu erwähnen, schließlich ist es Ihnen gerade so klar wie es mir von Anfang an gewesen war: Die Tatsache, dass ich den Stein mit mir herumtrug, brachte mir außer eine ausgebeulten Hosentasche weder Vor- noch Nachteile. Ungeachtet dieses positiven Effektes sah ich unserem bald darauf anberaumten Ergebnistreffen nicht ohne Sorge entgegen, denn es war bereits abzusehen, dass Ot sich Erfolge geschaffen haben würde, wo keine hingehörten; schließlich ist es kein Geheimniss, dass man den Leuten nur irgendetwas einreden muss, und schon läuft keiner mehr unter Leitern durch!

Tatsächlich war Ot mit seinen Ergebnissen sehr zufrieden, und ganz wie ich es erwartet hatte, war sein "Versuch" auch abgelaufen. Er hatte sich das leichtgläubigste Wesen gegriffen, was ihm über den Weg gelaufen war; naturgemäß handelte es sich dabei um ein Kind. Selbiges war gerade emsig damit beschäftigt, das Fahrradfahren zu erlernen. Für Ot war das natürlich die Gelegenheit, die Strahlenwirkung seines Glückssteines unter Beweis zu stellen. Er gab dem angehenden Straßenverkehrsteilnehmer also unseren Stein, nicht ohne zu vergessen, hinlänglich auf das Kind einzuwirken. Und, wie sollte es anders sein, das Kind konnte Fahrradfahren! Das jedes Kind dieses nun irgendwann mal lernt: Es wäre müßig gewesen, ein solches Argument anzubringen, den Ot’s Ohren sind ihm für derart banale Tatsachen einfach zu schade.

Trotzdem konnte ich mich eines gewissen Gefühles des Neides nur schwer erwehren, denn meine eigenen Versuche, meiner Tochter das Fahrradfahren nahezubringen, endeten in einem mittleren Fiasko. Dabei hatte ich die psychologische Trickkiste bis zum Boden ausgekostet, hatte selbst den schlechtesten Ansatz noch wohlwollend für gut befunden, nach Stunden immer noch darauf gepocht, dass sie nun gerade vor dem Erfolg stünde. Es kann einen schon hart treffen, wenn da jemand mit einem Glücksstein dahergelaufen kommt und die entsprechende Aufgabe an einem Wildfremden innerhalb von eine halben Stunde löst. Obwohl, zur Verteidigung meiner Lehrfähigkeiten muss ich sagen, dass mein Tochter seit ihrer Geburt durch eine leichte Behinderung von sportlichen Höchstleistungen abgehalten ist, die ihr wohl auch das Fahrradfahren ein klein wenig schwerer machen, als es für andere Kinder ist: Ihr fehlt das rechte Bein.

Ot bat mich, ihm den Glücksstein zu überlassen, worauf ich natürlich gerne einging (andererseits hätte ich auch kaum eine andere Wahl gehabt, selbst wenn ich mein Eigentum zurückgefordert hätte: Denn natürlich hatte Ot dem fahrradfahrenden Kind den Stein längst für spätere Anlässe übereignet).

Selbigem Kind übrigens, bevor ich es vergesse zu erwähnen, begegneten wir in später folgenden Diskussionen selben Themas wieder. Ot berichtete mir, in was für argen Problemen sein Schützling stecke; von ärgernden Mitschülern bis hin zu tiefsten Ängsten vor bösen Monstern war alles dabei. Ich für meinen Teil konnte mir gut vorstellen, dass diese Ängste und Sorgen durch Ot nicht gerade effektiv verringert wurden. Denn es bedarf nicht viel Verständnisses, um einzusehen: Ot ist nur mangelhaft geeignet, einem Kind die Nichtexistenz eines Monsters nahezubringen! Genausowenig versteht Ot etwas von der Tatsache, dass man Mobbing am ehesten dadurch entgeht, dass man es schlichtweg ignoriert (was den anderen Kindern den Eindruck aufzwängt, ihre Sticheleien wären gar nicht vorhanden). Im Gegenteil, er vertrat die Ansicht, das Kind müsse sich vor dem Schlafengehen sorgfältig nach Monstern umsehen, und seine Gegner solle es mit Hexensprüchen beikommen, wovon er sich einen lustigen Effekt versprach.

Nun ist es so, dass ich ein gesteigertes Verantwortungsgefühl gerade für die Menschen habe, die leicht von derart hahnebüchenden Geschichten zu beeinflussen sind. Ganz unabhängig davon, dass ich einsehe, dass Ot im Gebiete der Erfindungen unbestritten ein Experte ist, nahm ich mir also heraus, den Eltern seines kleinen Lehrlings ganz nebenbei einen Wink zu geben, um eine Wiedergutmachung der Fehler meines alten Freundes zu bewirken. Sie versprachen mir, ein ernstes Wort mit ihrem Sprößling zu wechseln, was wohl darin resultierte, dass der Glückstein verschwand und die Monster in die Nichtexistenz gebannt wurden.

Jedoch, ich glaube, ich erwähnte es schon: Es hat nicht nur angenehm Seiten, dass Ot nicht so real ist, für wie ich alle Dinge, einschließlich der Unwirklichkeit der anderen, halte.

So kommt es auch, dass Ot sich nicht weiter um meine Wirklichkeit oder die irgendeines anderen schert, sondern des Nachts im Schlafraume des Kindes ist, leise den Glücksstein aus dem Mülleimer holt und ihn so unters Bett legt, dass dessen Strahlen das dort verborgene Monster verjagen, um sich dann sacht über das schlafende Menschlein zu beugen und ihm zuzuflüstern:

"Alle Menschen leben in einer eigenen Wirklichkeit. Manche meinen, dass all diese Wirklichkeiten eigentlich nur einer einzigen, absoluten Wirklichkeit entspringen würden, und das ist okay. Andere meinen, dass jeder seine eigene Wirklichkeit selbst erschaffe, und auch das ist okay. Ein Problem ist es nur dann, wenn man meint, jeder lebe im selbst erschaffenen Traum, nur man selber lebe in der absoluten Wirklichkeit."

 

Dudweiler, 1997