Als Schutz vor der Unwirklichkeit

Für Prof. Hotz

Irgendwo, wahrscheinlich näher als wir manchmal denken, liegt ein großes, hohes und sehr altes Gebirgsmassiv. Die Luft ist dünn und kalt in diesen Höhen, an wenigen nur Stellen erkennt man Furchen im Gebirge, die zu begehbaren Pässen werden könnten. Und inmitten dieses Gebirges liegt ein kleines, grünes Tal, von den Felsen an allen Seiten umringt, in dem die Stadt liegt, in der wir alle leben.

Unsere Stadt ist eigentlich nichts besonderes. Viele der Bürger arbeiten draußen auf den Feldern des Tals, aber wir entwickeln auch immer mehr Industrien und vielseitige andere Betriebe. Wir sind vielleicht kein übermäßig freundliches Volk, aber wir sind ehrlich und ordentlich. Unser Fleiß ist in aller Welt sprichwörtlich.

Obwohl, in diesem Punkt gibt es auch eine Ausnahme. Am nördlichen Ende des Tals, da, wo die Gebirge am wenigsten hoch sind und man bei gutem Wetter einen Ausflug in die Berge machen kann, liegt der Stadtteil Juventus. Kommt man vom Rest der Stadt nach Juventus, so hat man das Gefühl, in eine neue Welt zu kommen. Im Gegensatz zur Ordnung der Innenstadt herrscht hier das wilde Chaos, und von Fleiß kann wahrlich keine Rede sein. Die Bürger dieses Stadtteils lungern in den Ecken rum, laufen Kreuz und Quer durch die Straßen und beschmieren die Wände. Selbst an simple Gesetze wie die Gesetze der Realität hält man sich hier nur, wenn es einem Spaß macht; so schwirren einzelne Bürger durch die Luft, andere gehen durch Wände oder verwandeln sich in Wesen, mit deren Ausrottung man sich in der Innenstadt eine goldene Nase verdienen kann. Nicht genug damit, ziehen kleine Banden von Juventus zu uns herüber und verletzen unseren Bereich der Stadt. Nicht dass wir allgemein etwas gegen Bürger aus anderen Stadtteilen haben. Im Gegenteil, viele meiner Nachbarn sind aus Juventus in unsere Gegend gezogen, und mit den meisten verstehe ich mich prächtig. Einfach war es für sie sicher nicht; man kann sich vorstellen, welch arge Schwierigkeiten das beim Einleben für jeden einzelnen von ihnen gegeben hat. Lange Zeit kamen sie mit den harten Gesetzen, die bei uns nun einmal gelten, nicht klar, und die meisten haben ihre bittere Erfahrung gemacht mit denen, die andere zu ihrem eigenen Vorteil ausnehmen; denn die Juventiner sind ausgesprochen dumm und neigen dazu, alles zu glauben, was man ihnen vorsetzt. Was für sie selber gefährlich ist, können sie nur mit Mühe einschätzen.

Das mag auch ein guter Grund dafür sein, dass der Stadtrat der Innenstadt sich seit einiger Zeit geradezu ausschließlich, in jedem Fall aber präferiert, mit dem Problem Juventus befaßt. Dabei ist das Problem aber auch durchaus nicht einfach: Naheliegend könnte man meinen, es ließe sich schon eine Übereinkunft finden, man könne ja miteinander reden und versuchen, die Differenzen auszuräumen. Jedoch ist diese Ansicht völlig falsch, denn sie beruht auf der naiven Annahme einer gemeinsamen Basis. Allgemein akzeptiert ist jedoch, dass eine solche nicht existiert. Die zweite Alternative wäre eine Art von Abschottung; aber was wir auch tun, Juventus bleibt ein Teil unserer Stadt, und unser Verantwortungsgefühl betrifft jeden Bürger. Würden wir nichts tun, würden wir nur dem Untergang dieser verkommenen Gesellschaft sozusagen aus dem Lehnstuhl zusehen: Was für Menschen wären wir dann? Doch nicht anders als die, die nur auf die Neueinzüge aus Juventus warten, um sie gehörig übers Ohr zu hauen. Also suchen wir stets nach verschiedenen Alternativen, um unsere Ordnung aufrecht zu erhalten.

Nun ist es nicht ganz einfach, nach Juventus hineinzugelangen. Eigentlich ist es, wenn wir ehrlich sind, noch kaum einem von uns gelungen, noch kaum einer war überhaupt verwegen genug, es zu versuchen; ja nicht einmal die, die noch vor kurzer Zeit dort gelebt haben, finden sich in dem dort herrschenden Chaos zurecht. Dies erschwert etwas die Kommunikation; andererseits bleiben, wie schon erwähnt, die Juventiner keineswegs auf ihrer Seite der Stadt, sondern ziehen des öfteren in unseren Teil hinüber. Wobei sie sich – mit mehr oder weniger viel Aufwand – auch durchaus wieder zurückschicken lassen, wenn man nur drohend genug auftritt. Bewußt und voller Tücke probieren sie aus, bei welchen braven Bürgern sie ihr Unwesen treiben dürfen, und wo sie verscheucht werden. Genauso findet man sie auf den Feldern oder besonders in den Bergen. Überall hin bewegen sie sich gleichsam zufällig und hinterlassen ihre Eigenartigkeit, nur in die Innenstadt ziehen sie gezielt und in böser Absicht. Da muss man von vornherein klare Grenzen ziehen.

An sich sind wir durchaus ein geduldiges Volk, aber andererseits lieben wir nun einmal auch die Ordnung. Aus diesem Grunde sind wir natürlich nur bis zu einem gewissen Grade bereit, uns das unmögliche Verhalten der Juventiner gefallen zu lassen. Nun ist aber ihre sprichwörtliche Dummheit hier ein weiteres Ärgerniss, denn sie verstehen nicht, was wir ihnen zu sagen versuchen. Erkläre ich meinen Nachbarn, einem langjährigem Bürger der Innenstadt, dass er die Vögel in meinem Garten nicht mit einem Schrotgewehr abzuschießen habe, und füge ich höflich hinzu, dass ich andernfalls mit der Polizei meine Forderung unterstreichen würde, so fügt er sich meinem Willen. Den Juventinern allerdings Ähnliches zu erzählen, hat geradezu keinen Effekt; da nützt all' unsere offensichtliche Überlegenheit keinen Deut. Wie sollte ich jemandem drohen, der den Nachdruck meiner Drohung gar nicht begreifen kann? Man konnte die vernünftigsten und realistischsten Gründe aufzählen, es war gerade, als rede man gegen eine Wand. Es drängte sich einem immer das Gefühl auf, die Juventiner würden eine andere Sprache sprechen, die mit der unseren so wenig gemeinsam hatte wie eine Kaulquappe mit einem Frosch.

All diese Entwicklungen führten schließlich dazu, dass die Meinung aufkam, man müsse die Juventiner gründlich von unserem Gebiete verscheuchen. Immerhin kannten wir alle die immensen Probleme derer, die neu aus Juventus hinüberzogen; war es da nicht unsere Pflicht, mit aller gebotenen Härte dafür zu sorgen, dass normale Verhältnisse in der ganzen Stadt einkehrten? Verschiedene Ultimata, ihre Lebensweise grundsätzlich und deutlich umzustellen, verliefen ergebnislos, und es war fast schon so, als wären uns, dem weit überlegenen Volk, durch unsere eigene falsche und gewissenlose Moral die Hände gebunden. Diese Form der Hilflosigkeit war es schließlich, die uns half, besagte falsche Vorstellungen von Richtig und Falsch über Bord zu werfen und die Panzer aufrollen zu lassen.

Ha, da achteten die Juventiner plötzlich auf uns, als wir ihnen zeigten, wo ihre Grenzen lagen. Ich meine, nicht, dass sie die Grenzen noch lange zu sehen bekamen: Innerhalb von wenigen Wochen waren weit ins Innere von Juventus eingedrungen, und gegen unsere Überlegenheit schienen die Waffen in den Händen unserer Feinde nur Spielzeuge zu sein. Eine offizielle Kapitulation erreichte uns sozusagen in den ersten Kriegstagen oder kurz zuvor, und nur vereinzelte Partisanentätigkeiten machten es überhaupt notwendig, das wir schwere Kriegsmaschinen in den besetzten Gebieten ließen; ihr Einsatz war immer weniger notwendig. Es gab eine Flut von Einwanderungswünschen, und nur durch gezielte Zeitlimits konnten wir ihnen Herr werden.

Die Zeit strich über die neue Ordnung, und es etablierte sich eine Umgebung, in der sich alle wohl fühlen konnten. Mit verschiedenen Reibungspunkten gingen wir um, und im ganzen ging es der ganzen Stadt, besonders aber – im Vergleich zu vorher jedenfalls – den Juventinern wesentlich besser als früher. In dieser Zeit wandert ein Mann aus der Innenstadt in die Berge, sein juventiner Sklave einige Schritt hinter ihm. Es ist nicht ganz unumstritten gewesen, die Juventinern zu Sklaven der Innenstädter zu erklären, aber schließlich ist Einigkeit darüber entstanden, dass nur so ständige Sicherheit und Ordnung im Leben der Juventiner garantiert werden konnte. Das sie zuviel Freiheit nur mißbrauchten, hatten sie hinlänglich gezeigt. Außerdem sind die Juventiner natürlich nicht völlig rechtlos: Nach einiger Zeit ziehen sie in die Innenstadt um und zählen dann als gleichberechtigte Bürger. Außerdem kehren sie des Nachts nach Juventus zurück und dürfen sich dort über einige Gesetze hinwegsetzen, wie es nun einmal ihrer Art ist; allerdings entsteht in letzter Zeit auch dort eher eine – ein wenig vereinfachte und leicht verschwommene – Ordnung und Geradlinigkeit, wie sie in der Innenstadt üblich ist.

Dieser Sklave zum Beispiel steht in gewisser Weise kurz vor dem Umzug. Sein Freilassungsbrief liegt auf dem Schreibtisch seines Herren, und dieser verzögert die Unterschrift nur noch ein wenig; zu sehr freut er sich an seinem gut erzogenen und intelligenten Juventiner. Zusammen, beinahe Seite an Seite, stehen sie auf einem Felsvorsprung und schauen auf die Stadt hinab. Sie leuchtet leicht im roten Licht der Abendsonne, die nicht mehr weit über den Bergen steht. Eine himmlische, ja fast schon beängstigende Stille liegt über der Landschaft. Nur vereinzelt hört man noch ein Panzergeschütz aus Juventus, begleitet von leisen und in diesen Höhen kaum wahrnehmbaren Schreien. Überhaupt kein Vergleich zu dem Lärm, der früher aus Juventus fast die ganze Stadt überzog. Heute hört man nur noch wenig, und das auch nur noch aus einem verhältnißmäßig kleinem, abgestecktem Gebiet, das heute noch in Ansätzen dem alten Juventus gleicht. Dem Sklaven fällt der leichte unterschied dieser Enklave zum Rest der Stadt auf, und er macht seinen Herren unterwürfig darauf aufmerksam. Dieser ist erfreut über das Interesse. "Einige Innenstädter haben die alten Ordnung immer noch nicht abgelegt. Uns gegenüber berufen sich auf ihr Besitzrecht über die Juventiner, und die Juventiner wiegeln sie auf, indem sie behaupten, sie seien nicht unser Eigentum!" Der Sklave kneift seine Augen zusammen und schaut hinunter, während der Bürger fortfährt: "Sie benutzen ihre Waffen nur in wenigen Fällen, eigentlich fast mehr als Warnschüssen anstatt um wirklich zu bestrafen, und lassen ihre Sklaven viel länger in Juventus bleiben als gut für diese ist. Dabei sind es manche der Generäle der ersten Stunde, die jetzt ihrem eigenen Volk auf diese Weise hinterlistig in den Rücken fallen." Er seufzt und schüttelt seinen Kopf über die traurige Entwicklung der Dinge. "Jetzt schimpfen sie darauf, dass wir Macht über Juventus haben, und dabei haben sie uns doch am Anfang erst die Möglichkeiten geliefert. Sie sind halt recht naiv." Er erinnert sich, wie sein Juventiner in seinem Haus die Arbeit aufgenommen hat, und lächelt. "Gerade so wie du früher. Aber bald wirst Du ein Bürger sein wie jeder andere auch". Der Juventiner atmet schneller. Er freut sich auf diesen Augenblick. Lange genug war er in der Postition eines Sklaven gewesen; es wird interessant, die Welt mal aus dem anderen Blickwinkel zu sehen. Kurz überlegt er, etwas in diese Richtung zu sagen, aber ein scheuer Seitenblick macht ihm klar, dass es jetzt gerade besser ist zu schweigen. Der Bürger fährt fort: "Laß dich nicht von solchen Leuten beschwatzen, hörst du? Ich zähle darauf, dass du in unserer Stadt die Ordnung erhälst und vielleicht auch dorthin", er schwenkt mit dem Arm in Richtung der Enklave, "ausbreitest". Es besteht kein Zweifel, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Es ist soviel einfacher geworden, mit Juventinern zu reden. Sie hören auf einen. In jedem Sinne des Wortes.

Gemeinsam machen sich die beiden an den Abstieg. Nicht weit über ihnen sitzt Ot, eigentlich ein langjähriger Bürger der Stadt, in der Nähe des Gipfelkreuzes, und nimmt einen letzten Bissen von seinem Apfel. Er muss gegen die Sonne blicken, die gerade hinter den Bergen zu verschwinden beginnt, und so erscheinen ihm die beiden fast nur wie zwei Schatten, ein alter und ein junger Scheme, die von ihm weg wandern. Der Andersdenkende wendet seinen Blick ins Tal und sieht, weit unter ihm, die Stadt im Halbdunkeln liegen. Es ist so dunkel, dass man eigentlich kaum die am nördlichen Ende gelegenen Ruinen von Juventus erkennen können sollte; aber irgendwie scheinen sie von innen heraus und geben Zeugnis von den Geschehnissen.

Die Nacht wird bald beginnen, und es wird Zeit für Ot, seinen Platz in den Bergen aufzugeben. Vielleicht war er einer der ersten, die gedacht haben, dass man die Juventiner nicht gewähren lassen darf? Vielleicht war er einer der hilflosen, die einfach nicht mehr vordrangen zu diesem scheinbar so andersartigem Volk? Es ist immer schwer zu wissen, was in dem Andersdenkenden gerade vorgeht. Eines aber ist sicher: Er kennt die Regeln seiner Existenz. Langsam steht er auf, wendet dem inzwischen nachtdunklem Tal den Rücken zu und wandert auf der anderen Seite die Berge hinab.

Dudweiler, 1999