Der Lauf

Schon früh am Morgen hatten sich die Läufer eingefunden, sie sammelten sich vor dem Startplatz. Die Strecke war steinig und schwierig, aber kurz, und es gewann, wer das Ziel erreichte, desto mehr, je früher er dort ankam.

Am Start aber standen auch die beiden Favoriten und liefen sich warm; Herr Kons, der schon äußerlich durch seinen gewaltigen Körperbau imponierte, voller Muskeln und mit starken, durch die Haut scheinenden Sehnen, und die Neue, die, zwar viel weniger kräftig gebaut, doch voller Zähigkeit war. Sie hatte bisher jedesmal die Kritiker überrascht mit ihrer Durchhaltekraft, die man ihr kaum ansah, und die sie doch besaß. Mit dem schwachen Gefühl von Neid und Angst, das so leicht zwischen Konkurrenten entsteht, und doch mit einer aufgesetzten Höflichkeit unterhielten sich die beiden über die Strecke, die vor ihnen lag. Herr Kons hatte sich den Startplatz genau angesehen, und seine Urteilsfähigkeit war berühmt unter Fachleuten. Mit dem Stolz eines anerkannten Profis auf seinem Gebiet erzählte er von den Schwierigkeiten, die sie gleich auf den ersten Metern erwarten würden, listet auf, welche Steine man überspringen könnte, welche man umgehen müsse, und wo die fast unsichtbaren Fußangeln lauerten. Die Neue redete vom Zielplatz, den man in der Ferne bereits dunkel erkennen konnte; sie berichtete, daß dort wenig, ja fast keine Steine liegen würden, daß man am besten mit voller Geschwindigkeit laufen sollte, um keine Sekunde zu vergeuden, und daß man arges Pech haben müßte, um dort zu fallen. In der bei beiden bestehenden Gewißheit, ein Favorit zu sein, hörten sie sich selber lieber reden als den anderen, bekamen dessen Einwürfe immer nur am Rande mit und meinten, der andere rede vom selben Gebiet wie sie: So wurde die Diskussion immer heftiger, jeder meinte, der andere hätte die Wahrheit doch vor Augen, warum er ständig widerspreche und so waghalsige, ja gefährliche Thesen, die doch offensichtlich Blödsinn seien, von sich gebe. Schließlich trennten sie sich entzweit, ausrufend, man werde es dem anderen schon zeigen, indem man das Rennen gewinne.

Und so kam der Startschuß, und das Feld setzte sich in Bewegung, wie eine Mauer, Profis allesamt. Die Neue richtete ihren Blick auf das schon so nahe scheinende Ziel, lief darauf zu, mit aller Kraft, die ihr Körper hergab. Wen sollte es wundern auf der steinigen, unebenen Strecke, das sie einen oder zwei Steine übersah, vorwärtsstrauchelte, vergeblich bemüht, sich wieder zu fangen, und schließlich der Länge nach hinschlug? Ihr Kontrahent dagegen achtete peinlichst auf jeden Stein vor seinen Füßen, dabei hätte er fast mit geschlossenen Augen laufen können, so genau kannte er sich aus. Obwohl er, weiter vorwärtskommend, die Steine weniger gut kannte, half ihm sein scharfes Auge und sein geübter Körper auch über Hindernisse, auf die er nicht vorbereitet war, und zweifelsohne hätte er das Ziel glücklich erreicht, als erster wahrscheinlich, aber mit Sicherheit früh genug, wenn er nicht - ja wenn er nicht, ohne auf den Weg zu achten, in die falsche Richtung losgelaufen wäre, und jetzt immer weiter sich vom Ziel entfernte. Und auch sein Schicksal schien auf lange Sicht nicht besser als das seiner Herausforderin, denn wie der Zufall es wollte, kam er versehentlich auf immer schlechteren Boden, und so kann es nicht mehr lange dauern, bis auch er fällt.

Ist es nicht seltsam, daß die beiden, die doch - zu recht - als Profis gehandelt wurden, nicht auf die Idee kamen, sich gegenseitig zu helfen? Das nicht der eine die andere geschickt um die Fallen herumführte, während die andere die Richtung angab? Noch dazu, wo nicht der Gewann, der als erster durchs Ziel ging, sondern der, der früh durchs Ziel kam, so oder so? Statt dessen warfen sie sich Knüppel zwischen die Beine, verlachten und verurteilten jeden Fehltritt des anderen, und versagten beide kläglich.

Bei uns ist das anders: Wenn wir auch schon viel Zeit vergeudet haben, einen großen Teil des Weges werden zurücklaufen müssen, so sind wir dennoch noch nicht verloren; aber wir haben es eilig, denn es sind andere im Rennen, deren Sieg unseren Untergang bedeuten würde.

 

Mölln, ca. 1988