Das
Gute im Menschen
Mann erzählt:
"Es lebte dort ein Mann, der kam von einer langen Reise zurück nach Hause.
Dort mietete er eine große Halle, und in ihr versammelte er häufig die Armen
der Stadt und gab ihnen Brot und Suppe. Während sie aßen, erzählte er ihnen
von großen Menschen, von Philosophie, ja er wagte es gar, vor solchen Publikum
von Ästhetik und Kunst zu reden. Seine Freunde und Verwandten sahen dies mit
großer Skepsis, und mehrmals fragte sie ihn, was er da tue. "Ich glaube,"
so erklärte er ihnen, "daß in jedem Menschen etwas gutes steckt, und daß es
herauskommt, wenn sie nur in die richtigen Umständen gelangen. So versuche ich
ihnen die richtigen Umstände zu schaffen!"
Freilich, auf die Dauer war eine Speisung einer so großen Schülerschaft
schwierig, und der Mann mußte mehr und mehr arbeiten, um das nötige Geld
zusammenzubekommen, und von der Anstrengung ward er mehr und mehr krank. Anfangs
ignorierte er seine Leiden, um weiterhin das Gute zu erwecken und den Menschen
Brot geben zu können, aber schließlich bekam seine Familie, im Verbund mit
mehreren Ärzten, ihn dazu, eine Erholungsreise anzutreten.
Aber auch im Kurort sah man ihn öfters mit den Armen, die Niemanden für
ihr Gespräche hatten, plaudern, als heilsame Bäder nehmen, und so war er fast
noch geschwächter als zu Beginn der Kur, als er auf dem Rückwege nach Paris
kam. Auf der Straße begegnete ihm eine alte Frau, die ihn um ein wenig
Kleingeld bat, und als er zuerst nicht reagierte, schließlich, ihn von der
Seite anstoßend, bettelte: "So gib mir wenigstens 2 Sou für ein wenig
Schnaps!" "Wieso möchtest du auf leeren Magen trinken?" fragte der Mann. "Komm, wir beide gehen erst mal essen!" Daraufhin kehrten sie in ein hohes
Restaurant ein, und die Bettlerin war sich sehr unwohl in ihrer Haut, bis das
Essen vor ihr stand. Dann aber schlug sie kräftig zu. Als die Rechnung kam,
griff der Mann in seine Brusttasche und stutzte. "Wie dumm von mir. Jetzt habe
ich mein Portemonnaie im Hotel liegen lassen!" Die Bettlerin sah ihn von unten
herauf an und sagte schließlich leise: "Hier ist es. Ich habe es dir vorhin
genommen." "Ich habe es wohl bemerkt," antwortete der Mann, vor Glück
strahlend und kaum eines Wortes fähig. Er fühlte sich wie im siebentem Himmel,
merkte kaum, wie er zahlte und er dann der Frau in ihr Zimmer folgte, immer noch
glücklich über das Gute in ihr. Sie legte sich aufs Bett und begann, sich
auszuziehen; als er aber einen Schritt auf sie zutrat, fiel er plötzlich durch
einen Teppich, der eine Falltür verborgen hatte. Mit aller Kraft klammerte er
sich an den Wänden des Schachtes fest, der noch tief nach unten ins dunkle
Wasser führte, und sah nach oben: Dort, im kleinen Rechteck Licht, sah er seine
Jacke über einem Stuhl hängen, und Frauenhände sah er, die das Dicke Bündel
Banknoten entnahm, das er im Stoff versteckt hatte. Er hörte Männerschritte
kommen, und die Frau sagte: "Nun sieh, Liebling, was mir heute für ein dicker
Fisch ins Netz gegangen ist! Zuerst habe ich nur seine Börse gestohlen, aber
dabei bemerkte ich die dicken Scheine in der Jacke, und da wollte ich mich mit
den paar Franc natürlich nicht zufrieden geben. Ich hab’ ihm die Börse zurückgegeben,
und er hat fast geflennt vor Rührung, und ist dann prompt in die Falle getapert.
Als der Mann dies hörte, da spürte er einen starken Schmerz in seinem kranken
Herzen, und ihm ward schwarz vor Augen, und sein lebloser Körper fiel in die
dunklen Wasser unter ihm."
Ein Wort nur, lieber Mann, möchte ich dazu nicht verschwiegen wissen:
Denn ihr Augenmerk mag auf der falschen Person gelegen haben. Nicht die Frau,
die oben sich des durch Raubmord gewonnenen Geldes freute, nein, der Mann, der
jetzt in der Saine sein Ende fand, zeugt des Guten im Menschen. So zögere ich
auch nicht, ihrem unvollendeten Werk ein Ende zu geben und dem Titel gerecht zu
werden:
"Es kam nämlich so, daß der Liebhaber der Diebin vom Anblick des
Geldes ganz berauscht wurde und mehrmals danach grapschte, so daß die Frau es
ängstlich von ihm wegzog. Fürchtend, der Mann könne sie um ihren neu
erworbenen Reichtum bringen, schüttete sie ihm ein wenig Gift ins Getränk, daß
sie ihm einige Abende darauf brachte. Aber auch der Mann hatte seine Pläne, den
am selben Abend verstand er es, seine Geliebte heimlich über ein neues Loch im
Boden zu führen, so daß auch sie im Wasser des Flusses begraben ward, während
er oben an der Wirkung des langsamen Giftes fast friedlich entschlummerte. Von
beiden blieb nicht mehr als vielleicht die Erinnerung eines Kindes, dem sie
einmal, vom Mitleid erfaßt, ein Nachtlager und ein Abendmahl gewährt hatten.
Im Heimatdorf des Mannes aber fanden sich seine Schüler vergebens in
der gemieteten Halle ein, um Essen für den Körper und Nahrung für den Geist
zu empfangen. Sie warteten dort, wie es des Menschen ist, selbst das
offensichtliche nicht zu glauben, einige Tage, und lernten sich so untereinander
kennen. Einige gingen schließlich maulend, den etwas anderes als ein wenig
Suppe hatten ihnen die Abende nie bedeutet, aber einige verblieben auch, erzählten
sich gegenseitig von ihrem Wohltäter, und der eine oder andere mag - in seinem
bescheidenen Rahmen - versucht haben, dem Vorbild nachzueifern."
Wie es denn so kommen muß, hat das Gute im Bunde mit der Zeit das Böse
im Menschen zwar nicht besiegt, aber doch überdauert, und so mag schließlich
nur der noch in Erinnerung sein, der zuerst gestorben ist in dieser Geschichte,
für deren Anfang ich Ihnen, Herr Mann, sehr dankbar bin ...
Mölln, ca. 1993