Deus Vult

Nicht wenige Menschen versuchen in unserer Zeit, sich für oder wider dem Glauben an die Existenz einen Gott zu entscheiden. Noch ungleich schwieriger ist, die Möglichkeit der Existenz eines Gottes in Betracht zu ziehen, ihm dann jedoch nicht blind folgen zu wollen.

Um vieles einfacher wird es, wenn wir uns in eine Welt denken, in der die Existenz eines Gottes gar nicht in Frage steht. Diese Welt sei eine Welt voll wundersamen Friedens, voll blühender Felder und schier endlosem Reichtum an wogenden Wäldern und malerischen Bergen. In dieser Welt lebt eine Frau, die den Namen Leila trägt und, wie gesagt, keinen Zweifel an der Existenz Gottes hegt. Das dieser Gott diese Welt nicht täglich besuchen kann, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung. Daher hinterließ er ein Buch und eine Anzahl von Propheten, die seinen Willen auf Erden zu vertreten hatten. In diesem Buch findet sich auch ein Vertragswerk, den der Gott mit den Menschen geschlossen hat: Sein Teil sei der Schutz, der ihrer der Gehorsam.

Aber Gehorsam, das sagt sich leichter, als es so umzusetzen ist. Eine Unmenge von Information über Gott standen Leila zur Verfügung, durchaus nichts Grundverschiedenes, aber beileibe auch nichts Widerspruchfreies. Sie versuchte, einen Konsens zu finden, eine Gemeinsamkeit in allen Schriften, und tatsächlich fand sie die eine, die im Vertrag fest verankert ist: Des Menschen Glück, so fand sie, stand wohl mit einiger Sicherheit im Interesse Gottes.

Über diesen Punkt bestand eine stillschweigende Einigkeit auch zwischen den Propheten, und ebenso – wenn auch weniger stillschweigend – in der Frage des Gehorsams. Naheliegenderweise versuchte hier allerdings jeder Prophet, eine gewisse Betonung auf seine speziellen Auslegung des Buches zu setzen. Es kam dabei so, dass zwei der Propheten, durch die lange Abwesenheit wohl verständlich, einige Differenzen miteinander hatten, deren Beilegung auf friedliche Art und Weise gänzlich unmöglich schien. In Angst, diesen bevorstehenden Kampf und damit auch ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, übertrieben sie ihre eigene Sicherheit in ihre Auslegungen ein wenig und ließen verlauten: "Meine Auslegung ist die einzig Wahre. Sie muß gegen die Irrenden verteidigt werden. So will es Gott". Und Gehorsam war Gottes Gebot, weswegen ein großer Krieg entbrannte.

Leila wurde durch diese Ereignisse in ihren Forschungen stark beeinträchtigt, denn immerhin ist so ein Krieg notwendigerweise mit einem gewissen Maß an Leid verbunden, was ihr der obersten Maxime Gottes, dem Wohl der Menschen, zu widersprechen schien. Ihre daraus hervorgehende Weigerung, sich tatkräftig an den Kämpfen zu beteiligen, führte zu harter Kritik seitens des Propheten, der sich ihren Beistand erhofft hatte. "Wer bist du, dass du es wagst, Gott den geforderten Gehorsam zu verweigern? Gerade dieses Verbrechen begehen auch unsere Feinde, die den Gesetzen Gottes, die ich verkündete, nicht folgen wollen. Auch für sie kann die Welt nur dann wieder eine glückliche Welt werden, wenn wir ihren Ungehorsam bestrafen!"

Das die anderen sich von der Lehre des Buches in der Tat entfernt hätten, dass sie möglicherweise sogar vom Gehorsam gegen Gott abgelassen hätten, ja, das vermeinte auch Leila zu erkennen. Das aber ihr Glück dadurch wesentlich beeinträchtigt schien, das erschien ihr weit weniger gewiss. Und darum traf sie ihre Entscheidung: "Das Glück der Menschen stelle ich über den Gehorsam. Das Leid des Krieges werde ich eher verurteilen als den Ungehorsam gegen Gott!" "Das ist Blasphemie!" zeterte der Prophet, und er sollte Recht behalten.

Denn, man möge es nicht aus den Augen verlieren, wir befinden uns nicht auf der Erde, sondern in einer Welt, in der es an der Existenz Gottes keinen Zweifel gibt. Und so gefiel es Gott, gerade diesen Zeitpunkt für ein erneutes Erscheinen zu wählen, nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil der Prophet tatsächlich das Buch am weisesten studiert hatte und auf der wahren Seite stand. Und Gottes Ziel war es, ihn in seinem schweren Kampf gegen die Feinde von Innen und von Außen zu schützen, wobei Leila zweifellos zu ersteren Gruppe gehörte. Natürlich schwebte ihm vor, dass Leila ihren Fehler von sich aus erkenne und sich der Wahrheit zuwenden könne, wie ein Vater es eben von seinen Kindern wünscht. "Habe ich mein Wort denn nicht deutlich verkündet?" fragte er Leila mit Donnerstimme, "habe ich denn meinen Kindern nicht ein Buch und diesen klugen Propheten geschickt, damit sie die Wahrheit erkennen können? Wäre es nur Deine Unwissenheit, die dich in deinen Irrtum getrieben hatte, wahrlich, so könnte ich dir verzeihen. Aber in meiner Größe weiß ich von Deinem Innersten, und ich weiß, dass du die Fehler der Feinde Gottes erkannt hattest und wusstest, dass sie nicht meine Worte predigten. Wie kannst Du ihnen dann Schutz gewähren in deinen Worten?"

Leila, wie erstarrt vor Staunen, Angst und Verwirrung, blickte ihren Gott in die Augen (und das ist etwas, was man nie tun sollte). So sicher war sie sich gewesen! So sicher, dass ihr Bild Gottes den wahren Gott darstellte, und jetzt erkannte sie, dass sie, die schwache und dumme Menschenfrau, sich so arg getäuscht hatte. Sie senkte ihren Blick, und im Inneren malte sie sich die unvorstellbaren Folgen aus, die es gehabt hätte, wenn Gott ihr nicht erschienen wäre; jedoch, es wollte ihr nicht gelingen, und schließlich wagte sie zu fragen: "Was, oh Herr," fragte sie, "was wäre gewesen, wenn du mich nicht wieder auf den rechten Pfad gestoßen hättest, wenn wir zugelassen hätten, dass die Feinde Gottes ihrem Irrglauben weiter folgen?" Gott lächelte. Er hatte im gleichen Moment einen Feind verloren und eine Anhängerin gewonnen. Entsprechend wohlwollend fiel seine Antwort aus: "Ich hätte dann meine schützende Hand von ihnen genommen, denn unserer Vertrag ist zweiseitig; wenn die Menschen ihn brechen, so halte ich mich nicht daran. Es wäre eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich in ihrer Ignoranz gegenseitig zerfleischt hätten. Nichts wäre ihnen mehr gelungen ohne das, was sie Glück nennen und was in Wirklichkeit meiner Hände Kraft ist." "Aber es stünde weiterhin in deiner Macht, sie auch dann noch zu erhalten?" flüsterte Leila. "Natürlich! Meine Macht kennt keine Grenzen! Aber es wäre nicht ihr Recht, weiter auf meine Hilfe zu zählen!" Antwortete der ungeduldige Gott, mit all seiner Kraft in seiner Stimme. Leila aber spürte eine Macht in sich, die mit der Stimme nichts gemein hatte. Der Schild aus Angst um ihre Seele begann zu bröckeln, je mehr die Angst um die Menschen Macht über sie bekam. "Deine Hilfe?" fragte sie, "Deine Hilfe? Du verdirbst sie, wenn sie ungehorsam sind, einfach um den Gehorsam willen? Was nützt dir der Gehorsam? Gibst Du ihn deinem Gott? Ist nicht der Gehorsam nur das Mittel zum Zweck des Glückes der Menschen, die im Gehorsam deiner Regeln Glück finden sollten? Den Gehorsam solltest du niemals über den Glauben stellen, denn er dient dem, dem du dienst!" Diese Worte aber erzürnten Gott, sie ließen ihn erzittern vor unbeherrschtem, ja unbeherrschbaren (denn wer sollte Gott beherrschen?) Zorne: "Höre, du, die du Nichts bist! Sie brechen den Vertrag ohne Recht!"

Aber in Leila war längst mehr. Sie hatte die Angst verloren, so wie man ein wertvolles Kettchen verliert oder ein Armband. sie wurde ruhiger, desto ruhiger, je wilder Gott sich gebärte. "Nicht ohne Recht brachen sie den Vertrag. Mit dem Recht, dass du eben genannt hast: Wenn eine Seite den Vertrag bricht, so ist die andere ebensowenig verpflichtet. Und du bist es gewesen, der um seine Interessen willen einen Krieg heraufbeschwor, der nicht, wie verschiedentlich geschrieben ist, notwendigerweise mit einem gewissen Maß an Leid verbunden ist! Der Krieg ist tatsächlich nichts anderes als von Blut und Leid getränktes Elend für Sieger und Verlierer, für jeden Soldaten, für jedes unschuldige Kind im Bombenhagel, für jeden trauernden Verwandten! Und wieviel mehr noch wiegt das alles, wenn es für Nichts ist als einem eifersüchtigen Gott, dessen Haß und Herrschsucht über seine geheuchelte Liebe zu seinen Dienern, ja zu seinen Sklaven geht! Nein, ich kündige unseren Vertrag, wegen Bruches Deiner Verpflichtungen, und ich entziehe dir den Namen Gott, denn was Gott ist, wählt nichts über der Liebe."

Dies ist der Moment, wo wir unsere erdachte Welt schleunigen Schrittes verlassen sollten, denn erstens wird sie in allernächster Zeit in einem Feuerball untergehen, und zweitens schlagen die Flammen auch schon aus den Herzen derer, die unsere Welt mit der erdachten zu verwechseln drohen. Es gibt aber, man solle sein Augenmerk nicht davon abrichten, einige wesentliche Unterschiede. Unser Gott hat sich bisher noch nicht auf die Seite einer Religion als die absolute und unangreifbare Wahrheit gestellt, und sollte er existieren, so lacht er wahrscheinlich über die Unterschiede und liebt die Menschen für ihre Gemeinsamkeiten, jedenfalls sollten wir das wohl tun. Außerdem ist es sehr zweifelhaft, dass Gott den bewaffneten Kampf in seinem Namen einem Volk von Andersgläubigen und doch in seinem Sinne lebenden vorziehen würde. Was bleibt, ist allein die Angst, dass wir uns täuschen und er doch genau dies will, oder dass man es uns glauben machen kann, er will es. Vielleicht erklärt uns jemand, er sei ein jähzorniger, intoleranter und ungeduldiger Gott. Wer beschützt uns vor dieser Angst, außer unserem Gewissen? Könnten wir uns dem Erzengel Gabriel oder dem, der sich für ihn ausgibt, ins Gesicht lachen, wenn er mit dem Schwert in der einen und dem Gottesbeweis in der anderen Hand vor uns steht und uns zuruft: "Deus vult"?

Ich bete dafür.

 

Mölln, ca. 1995