Die Gerichtsverhandlung in Andorra
Der Andere trifft ein, als
der Doktor gerade aus dem Zeugenstand entlassen wurde. Er ist noch traurig, denn
er hat Beckmann verloren, und er ist müde, denn lange wird ihn sein sterbender
Körper nicht mehr mitnehmen. Er setzte sich neben den Gesellen und spricht ihn
an: "Verzeihung, was findet hier statt?" Der Geselle winkt ab. "Es geht um
die Ermordung eines Judens, wissen Sie, während der Besetzung von Andorra,
vertrend dieses Land. Er war ein Jud, wie er im Buche steht, wissen Sie, und wer
sollte schon ahnen, daß er der Sohn des Lehrers war?" O, der noch an Beckmann
denken muß und dessen Mörder, ist ungehalten: "Ob Jude oder nicht, wessen
war er schuldig, ihn zu töten?" Der Geselle zuckt mit den Schultern, verzieht
unsicher den Mund. "Er soll die Seniorita getötet haben, die war eine von Drüben,
na und das wäre ja nun auch kein Verbrechen, aber sicher ist man sich nicht.
Wissen Sie, er wollte geradezu das Martyrium, er riß sich fast darum, ich hab
mich ja auch nicht ganz wohl gefühlt dabei, aber wirklich, hätte sein Vater
nicht alles für ihn getan, er wäre schn bei der Judenschau gestorben, einfach
erschossen." Der Andere nickt, er beginnt zu verstehen. "Was tätest Du
heute, wenn Du alles wiederholen kannst?" Der Geselle grinst gezwungen. "Ich
würde ihm die Fußballschuhe schenken, die Alten, die ich noch im Schrank
stehen habe. Wissen Sie" - er lächelt wie jemand, dem man eh nichts anderes
mehr abnehmen würde - "wir brauchen einen guten Linksaußen. Unser Jetziger
kriegt nicht mal ‘nen Eckball rein, und das, meinte er damals, würde er
schaffen." Der Andere glaubt ihm die Begründung nicht und ist beruhigt. Er
spricht den Wirt an: "Was war damals, als der Junge bei euch lebte, was hast
Du gedacht?" "Ich gebe zu, wir ..." der Andere unterbricht ihn. "Das
will ich nicht hören, den Text hat der Doktor bei meinem Eintreten schon
verlesen. Was habt ihr wirklich gedacht?" Der Wirt blickt überrascht, er
sieht seine Chance zur Rehabilitation. "Nun, ich habe ihn als Küchenjungen
gehabt. Ehrlich, kann es sein, daß ich Judenfeind bin, wenn er mein Küchenjunge
war? Außerdem: Die Seniorita hat auch bei mir gewohnt, bis sie der Stein
getroffen hat, ich habe ihn nicht geworfen, das nun wirklich nicht. Ich hab'
ihn gemocht, nur das ewige Ochestrion, ds ging mir auf die Nerven." "Was
geschah mit dem Koffer der Seniorita?" fragt der Andere. Die Antwort hierrauf
interessiert ihn mehr als die Erklärungen über den Stein. Der Wirt zögert. "Er steht och bei mir auf dem Speicher. Ich weiß nicht, was ich mit ihm
soll." "Schick ihn doch zurück", sagte der Andere, "ich weiß, ds wird
jetzt keiner gerne sehen, wenn Du einem Schwarzen gefällig bist, aber wenn das
Volk schimpft: Sieh nicht hin. Dein Leben geht weiter, Dein Herz mit ihm. Der
Wirt nickt, erst unsicher, dann nochmal, und wieder, jetzt fest und sicher. "Ja, das werde ich tun. Er gehört den Erben, Recht bleibt Recht in Andorra,
wer mir daraus einen Strick drehen will, der soll es wagen, bei mir noch einen
Schnaps haben zu wollen. So nicht: Recht bleibt Recht. Ok., ich habe das eine
oder andere verrissen, aber so leicht gebe ich nicht auf!" Der Andere freut
sich, gewinnt neuen Mut. Es ist so viel leichter als bei dem leeren und
halbtoten Beckmann, der die Gasmaskenbrille nicht gegen die rosarote tauschen
wollte. Er geht zum Nächsten, und erwischt einen schweren Brocken: Er spricht
mit Peider. "Wir haben gekämpft, oder vielmehr alles gegeben, als diese
Gruppe von Mördern kam." sagt Peider, und man sieht ihm die Unsicherheit an,
die er der Vergebung gegenüber verspürt. "Wir waren natürlich hoffnungslos
unterlegen, 100 zu 1, sie kamen mit mehr Panzern, als alle unsere Männer
zusammen Finger und Zehen hatten! Schließlich, wir hätten mit einer blödsinnigen
Verteidigung Andorra keinen Gefallen getan." Der Andere nickt, stimmt in
Gedanken zu: Jeder Tote wäre nur einer mehr, der Beckmann im Traum verfolgt hätte,
an einen Sieg war nicht zu denken, und auch das hätte den Andorranern ihren
Frieden auf Ewig zerstört. "Du hast dich mit dem Jud geprügelt?" Peider
nickt, dann schüttelt er den Kopf: "Er war kein Jude, ich dachte nur, er wäre
einer gewesen. Aber ich habe mich mit ihm geprügelt, das war noch nicht mal
meine Schuld, aber gereizt habe ich ihn wohl schon." Man sieht, wie er an
Barblin denkt, ihm wird ganz über vor schlechtem Gewissen, aber er traut sich
nicht, das hinzuzufügen. Der Andere kann ihn verstehen. Er merkt, daß Peider
diese Schwäche nur verzweifelt bekämpfen kann, aber er merkt auch: Jeder, der
sagt, Peider wolle diese Schwäche nicht bekämpfen, irrt oder vielmehr lügt,
denn es is nicht zu übersehen, daß er kämpft. "Warum hast du dem Lehrer
sein Gewehr abgenommen?" fragt der Andere. Peider stößt achselzuckend Luft
aus, als würde der Andere eine nebensächliche Frage stellen. "Ich sagte doch
schon, die Verteidigung hätte keine Chancen mehr gehabt. Er wäre umsonst
gestorben." "Aber du hättest doch warten können, bis die Schwarzen dir
zusehen, bis ein Schuß gefallen wäre und du ein Held wärst, für beide
Seiten?" Peider schüttelt den Kopf, als rede er über etwas selbstverstänliches,
und der Andere würde dumme Fragen stellen wie ein kleines Kind. "Bis dahin
ist schone einer tot, und ich bin dafür verantwortlich." Er denkt an den
Richter, der sich jetzt zurückgezogen hat, um in Ruhe ein Urteil fällen zu können,
und fügt hinzu: "Noch zu der Sache mit Barblins Bruder. Ne, einer reicht völlig."
Der Andere ist's
zufrieden.
Er sieht den Doktor, der
schlapp und müde auf seinem Platz sitzt. "Nun, wie ist es mit Ihnen?",
fragt er. Der Doktor sieht in ihm einen Gerichtsbeamten, will sich gerade
erheben, als er sich erinnert, daß er sein Plädoyer für Andorra gerade schon
gehalten hat. "Nun, was denn noch?" fragt er. "Wie geht ihr mit der Schuld
um, die ihr euch aufgeladen hat?" Der Doktor ist entrüstet, wittert eine
Falle. "Ich bin mir keiner Schuld bewußt, jedenfalls keiner, die solch ein
Verfahren hier rechtfertigt! Wer sind sie eigentlich, daß sie solche Fragen an
mich zu richten dürfen meinen?" Er erwartet keine Antwort, aber der Andere
kann die Antwort noch auswendig, so oft hat Beckmann gefragt. "Ich bin das
Leben, ich bin der Weg, die Chance, die Anderen." Der Doktor entspannt sich,
als er verinnerlicht, daß er keinen Beamten des Gerichts vor sich hat. Sekunden
später geht ihm auf, was der Andere gesagt hat, und sieht sich nach einem
Kollegen aus der Psychatrie um. "Das Leben, soso. Naja, werter Andere, ich
kann Eure Frage leicht beantworten: Ich glaube, ich habe nichts falsch gemacht.
Es ist alles kein Problem,..." Der Andere unterbricht ihn, bevor der Doktor
seine Beruhigungen übertreibt. "Was hattet Ihr für Ziele, warum habt ihr so
gehandelt, wie ihr gehandelt habt?"
Der Doktor fürchtet, der
Andere könne die Beherrschung verlieren, und beschließt daher, ihm so weit wie
möglich entgegen zu kommen und seine Fragen zu beantworten.
Doch so einfach ist es
nicht, er hat genug Gespräche mit Fachleuten geführt, einen in seinen
Wahnvorstellungen gefangenen nicht durch Antworten zu verunsichern, wer weiss,
wie gefährlich sein Gegenüber ist. Er zögert daher einen Moment, ehe er
antwortet: "Nun, ich bin Arzt, meine Aufgabe ist es, Menschen zu helfen."
"Was deine Aufgabe ist,
ist für mich ohne Bedeutung. Nur was dich getrieben hat, interessiert mich, und
ist von Interesse für dich." Der Doktor wird nervös. Ob er gerade den Fehler
gemacht hat, den er vermeiden wollte? "Nun, mein Freund, ich bin nicht umsonst
Arzt geworden. Ich glaube an das, was ich tue." "Warum hast du ihm nicht
geholfen, als du die Möglichkeit dazu hattest?" O's Frage kommt so schnell,
dass dem Doktor fast das Wort "Angst" über die Lippen gleitet. Bloss
nicht! Den armen Mann nicht noch mehr in Wut versetzen. "In der Situation war
mir nichts anderes möglich. Ein Narr wär' ich gewesen, wenn ich den Zorn der
Schwarzen noch geschürt hätte! Die Stimmung war sowieso schon am kochen!"
Der Andere schüttelt nur den Kopf, scheint erregter als zuvor. "Ein Mann
eurer Authorität? Ihr hättet andere vielleicht mitgerissen! Was hielt euch
auf?" Den Doktor überkommt Panik, als er den Gemütszustand des Anderen
bemerkt. Er fühlt dessen Angst davor, dass er selber keine Angst verspürt
haben könnte und aus nichts als Berechnung gehandelt habe, dass es ihm nur um
sein Leben gegangen wäre. Er spürt des Anderen Angst, dass er ihm nicht helfen
kann, und spürt seine eigene Angst, dem Anderen in sich selber nicht helfen zu
können, und brüllt, dass das Gemurmle im Saal verstummt: "Ich hatte Angst,
verdammt, was sonst! Die Toten der Schlacht, denen ich nicht hätte helfen können,
der eigene Schmerz: Es war mir unmöglich, abzuschätzen, wie groß meine
Chancen waren! Idiot, wärst du dabei gewesen, wüsstest du, wovon ich rede!"
Und der Andere weiß es. Weiß es besser, als er es zu wissen wünscht; weiß
jetzt, warum er nicht hatte helfen können, und verliert die Furcht vor dem
Unbekannten. Er ist es nicht, der Schuld an allem trägt. Es ist die Angst
davor, hilflos zu sein.
Die Anderen, die Richter,
treten aus ihrer Kammer heraus. In sich fühlen sie jetzt dieselbe Angst, die
den Doktor erfüllt hatte: Es könnten sie gewesen sein, die Schuld tragen. Glücklicherweise
stehen sie in der Position, zu sagen, wer Schuld trägt und wer nicht, und können
von sich weisen, was sie nicht haben wollen.
Mögen wir sie Andorra schuldig sprechen lassen, dann sind sie ihrer Schuld ledig, die sie nicht anders tragen können. Mögen wir verstehen und uns in denen, die wir verurteilen, wiedererkennen; schuldig ist, wer schuldig spricht, denn der Spiegel wirft nur das zurück, was vor ihm steht.
Mölln, ca. 1996