Alleine

Der Wind schlägt leicht ans Fenster,
Die Welt verdeckt von Nacht.
Der Zug fließt stetig vorwärts,
Und wiegt die Menschen sacht.

Des Wagen inn're Lampe
Bescheint mit schwachem Licht
Die Menschen in der Enge
Kaum einer mit Gesicht

Ein Junge reckt sich müde,
Er ist selbst hier allein.
Voll Enge zwar sein Leben
Doch Einsamkeit sein Sein.

Da sitzt er erst Minuten,
Doch nährt sich schon der Feind
Die Langeweile schleicht sich an,
Oft fieser, als man meint.

Zur Gegenwehr greift er ein Spiel,
Da taucht sein Bruder auf:
Das Pflichtgefühl erklärt den Krieg
Und siegt nur kurz darauf.

Er spricht, und seine Stimme streift,
Mal hier, mal dort ein Ohr,
Doch jedes weicht gleich weit zurück,
Wer traut sich da schon vor?

So bleibt ihm nur sein eigner Geist,
In diesen kehrt er ein
Er redet leise mit sich selbst,
und wirkt dabei so klein.

Grad neben ihm sitzt eine Frau,
Die hin und wieder schaut.
Sie greift nach ihrem Telefon
und wählt, und spricht dann laut.

"Ich bin es", es fehlt der Gruß,
"Wie geht es uns'rem Sohn?
Ich hoffe doch, ich irre nicht,
Er schläft doch lange schon?"

Sie müht sich sehr um Ruhe,
Während der And're spricht
Kein Wort hört man sie sagen,
Und doch spricht ihr Gesicht.

"Noch nicht?", kein Wort von Vorwurf,
"Dann gib ihn mir doch mal."
Die Worte klingen friedlich,
Doch ihm bleibt schwerlich Wahl.

Und auch ihr Kind erreicht kein Gruß,
Nur sicher klingt ihr Ton:
"Mario, geh schnell zu Bett,
Es ist schon spät, mein Sohn."

Man spürt, dass er kurz widerspricht,
Sie kennt es und bleibt hart.
"Komm, mach halt hin, ich komme spät",
Zu langsam ist die Fahrt.

"Deckst Du mich zu?" fragt er - sie stockt
Und Ihre Stimme hakt
Das Blut schießt schnell in ihren Kopf
Die Sicherheit versagt.

Beschützt sie ihn? Bewahrt sie ihn?
Ja hört sie, wenn er klagt?
Kennt sie noch ihre erste Pflicht,
Verdient sie, dass er fragt?

"Ja sicher... nein... es wird zu spät.
Doch morgen bin ich da."
"Nein, Mittwoch muss ich wieder los,
Schlaf gut, mein kleiner Star."

Sie sucht im Zwielicht nach dem Knopf
Das Telefon verstummt.
Sie packt es ein in ihr Gepäck.
Sie hört nicht, falls es summt.

Da neben ihr der kleine Kopf,
Wird immer weiter schwer
Der Schlaf berühert seinen Geist,
Erfasst ihn mehr und mehr.

Er schaut auf die Geschwisterschar,
Die Pflicht läßt ihn nicht Ruh,
Doch seine Augen sind zu schwer.
Und schließlich fall'n sie zu.

Die Frau schrickt hoch, sie dreht den Kopf,
Als hörte sie ihn rufen,
Doch was ihr Herz schon lange weiss,
Das muss ihr Geist noch suchen.

Da liegt es nun, das kleine Kind,
Er wirkt fast wie gefaltet,
Und zwischen ihnen streift ihr Blick,
Sein Mantel, warm gestaltet.

Und Engelsstimmen flüstern sanft:
"Nun komm schon, deck ihn zu."
Sie hört es wohl, doch tut sie's nicht.
Ich frag mich: Würdest Du?

 

Dudweiler, 2000
In der Eisenbahn auf der Rückfahrt aus Mölln